Nichts ist so schick, wie nix Neues zu kaufen

Es gab bessere Zeiten, Modeblogger zu sein. Worüber schreibt man, wenn es uncool ist, sich neu einzukleiden? Ein neues Outfit wirkt in Zeiten kalkulierter Überproduktionen und Vermüllung des Planeten geradezu ignorant und vulgär.

Nichts ist so schick, wie nix Neues zu kaufen

Konsum-Autor Carl Tillessen schrieb vor ein paar Tagen auf profashionals.de: „Vor der Pan­de­mie bedeu­te­te „nach­hal­ti­ger Mode­kon­sum“ für die Mehr­heit, dass man nach­hal­ti­ge Mode kon­su­miert. Den Gedan­ken, dass man auch weni­ger Mode kon­su­mie­ren könn­te, hat­te damals hin­ge­gen nur eine Min­der­heit, näm­lich ein Drit­tel der Leu­te. Durch die Pan­de­mie haben sich die­se Mehr­heits­ver­hält­nis­se umge­kehrt, so dass jetzt zwei Drit­tel aller Men­schen die Umwelt und das Kli­ma schüt­zen wol­len, indem sie dazu bei­tra­gen, dass weni­ger Klei­dung gekauft wird.“
Street Style Modepilot Paris Fashion Week Balenciaga old
Vintage-Mode: die klassische 'Motorcycle/City Bag' (erstmals 2001 entworfen) von Balenciaga bei der Schiaparelli Fashion Show dieses Jahr in Paris
Das merken wir alle an uns selbst. Jede Kaufentscheidung wird öfter überdacht als früher und endet meist in: Ich fühle mich besser, wenn ich das jetzt nicht kaufe. Oft tut es der Pullover aus dem letzten oder vorletzten Jahr genau so gut. Dennoch möchte man zwischendurch etwas Neues für seine Garderobe, um sie etwas aufzufrischen, oder einfach nur das Belohnungssystem anwerfen.

Braucht man wirklich so wenig?

Viele, sogar die, die von neuen Trends leben, suchen sich jetzt in der Vintage-Mode ihr neues „gutes Gefühl“. Genau genommen sind es sogar gerade diejenigen, die in der Mode arbeiten. Wie es Virgil Abloh (Off-White, Louis Vuitton), der bis zu seinem frühen Tod im vergangenen Jahr, der erfolgreichste Designer unserer Zeit war, vorhersagte: „I think that like we’re gonna hit this like, really awesome state of expressing your knowledge and personal style with vintage – there are so many clothes that are cool that are in vintage shops and it’s just about wearing them. I think that fashion is gonna go away from buying a boxfresh something; it’ll be like, hey I’m gonna go into my archive.“ (>>>).
Und die, die (noch) kein großes Archiv besitzen, kaufen eben Vintage. Darüber sprach ich vor zwei Jahren mit Kerstin Weng, der heutigen deutschen Vogue-Chefin, in der Vintage-Folge meines Podcasts 'Das trägt man jetzt so' (>>>). Darin verrät sie, dass sie am liebsten bei Re-See, einem Vintage-Onlineshop aus Frankreich, nach besonderen Fundstücken schaut. Damit zeigt sie, wie Abloh es wohl auch meinte, ihr Wissen über Mode, über die Umstände in der Welt, und ihren persönlich Stil.
Street Style dieses Jahr bei der Mailänder Modewoche
Bleibt ein guter Schuh: Street Style dieses Jahr bei der Mailänder Modewoche − Dieser Prada-Schuh von 2018 (>>>) ist eine Wiederauflage von 2012

Vintage-Mode − ein aktuelles Beispiel

Jetzt ist Mantel- und Stiefelzeit, wenn man die Ersteller von Onlineshop-Newslettern befragt. Das heißt, modisch interessierte Menschen überlegen sich gerade, dahingehend eine Neuanschaffung zu tätigen. Da stellt sich die Frage: Chunky Boots, also Stiefel mit einer sehr dicken Gummisohle, um die alte Rock-Garnitur an den Puls der Zeit zu führen, oder alte Modelle im Archiv finden und seinen eigenen Stil kreieren. Klassiker wären Cowboyboots, Reiterstiefel oder Lederstrumpfstiefel, wie jene von Stuart Weitzman. Letztere gibt es seit 10 Jahren und man bekommt sie gerade erstaunlich günstig (100 statt 1.000 Euro) bei Vestiaire Collective und anderen Secondhand-Plattformen.
Doch auch fürs Secondhand-Schnäppchen hat Carl Tillessen eine nüchterne Erklärung: „Um den kalten Entzug von Fast Fashion zu schaffen, brauchen sie einen Ersatz (damit meint er wohl uns, Anm. d. Red.). Der Konsum von Second Hand ist für sie eine Art Methadon. Es ist die neue Form schnellen und billigen modischen Ausdrucks – mit einem wesentlich kleineren ökologischen Fußabdruck.“
Na immerhin: Wenigstens ist das Ausleben des Jäger-und-Sammler-Triebes (oder sollte ich es 'Sucht' nennen?) weniger umweltschädlich als früher.
Photo Credit: Catwalkpictures
Modepilot ist Deutschlands erster Modeblog. Mit seiner Gründung in 2007 war und ist er Vorreiter der unabhängigen Mode-Berichterstattung. Noch heute wird die Seite leidenschaftlich von Mitgründerin Kathrin Bierling geführt. Sie ist eine ausgebildete und erfahrene Journalistin, die zunächst bei der Financial Times lernte und arbeitete und dann einige Jahre bei der WirtschaftsWoche beschäftigt war, bevor sie die Seiten Harpersbazaar.de, Elle.de und InStyle.de verantwortete. An Modepilot liebt sie, dass sie die Seite immer wieder neu erfinden muss, um am Puls der Zeit zu bleiben. Worin sie und ihre Autoren sich stets treu bleiben: Den Leser ernst nehmen, nicht sich selbst.

Kommentare

  • Andrea sagt:

    Ist es denn wirklich so, dass sich nachhaltiger gekleidet wird und es eine Rückbesinnung auf schon Vorhandenes gibt? Das wäre wünschenswert. Aber ich habe leider eher immer noch den Eindruck, dass alle ständig Neues kaufen. Und zwar immer alle denselben Kram. Alles ist fast fashion, auch die Mode der großen Häuser, die eben Umsatzgetrieben sind.

    Ich versuche, wenig zu kaufen (oder nichts) aber es fällt mir schwer in Zeiten von Instagram. Auch ich will doch immer Neues für den Rausch beim Kauf. Und das, obwohl ich regelmäßig meinen Kleiderschrank ausmiste und immer wieder feststelle, dass ich ja doch immer nur die selben Teile trage. Und dann durch den Aufwand, den ganzen ollen Kram loszuwerden (Flohmarkt, Vinted usw.) dann kurzzeitig geheilt bin. Und obwohl ich schon auf den heiß begehrten It-Pieces sitzen geblieben bin weil das heiße Teil - obwohl als Klassiker verschrien - 5 Jahre später niemand mehr haben will. Aufheben, bis es in 15 oder 20 Jahren wiederkommt? Puh - soviel Platz muss man eben auch erstmal haben. „Archiv“ klingt für mich leider nach einem vollen Kleiderschrank voller ungenutztem Zeug.


    • Kathrin Bierling sagt:

      Hallo Andrea, Vielen Dank, dass Du Deine Erfahrung mit uns teilst. Ich habe, wenn ich in die Innenstadt gehe, auch das Gefühl, dass es nicht besser wird. Ich frage am besten mal Carl Tillessen, woher er seine Entwicklungszahlen hat. Und das mit dem 'Archiv' ist in den meisten Fällen wohl wirklich so wie Du sagst, befürchte ich. Allerdings bin ich um so manche Investition sehr froh. Das sind allerdings auch Investitionen wie damals, als man ein Monatsgehalt für ein Kleid ausgab, wie z.B. meine Buckle Pumps von Roger Vivier, die ich mir als Praktikantin vor 20 Jahren in Paris kaufte. Die sind bis heute das perfekte Paar Pumps und ich habe seither keine anderen Lackpumps mehr kaufen müssen. Gleiches gilt für den Burberry-Kamelhaarmantel, den ich von meiner Großmutter bekam (Sie trug ihn selbst jahrzehntelang), der mir für immer eine Anschaffung eines beigefarbenen Mantels erspart, usw. Aber natürlich meine ich immer wieder, einen modernen Pullover- oder Jeanshosen-Schnitt zu brauchen. Und dann fühle ich mich auch gut/besser damit. Also irgendwo zwischen neuem Schnitt und Klassiker liegt für mich der beste Weg. Noch. Vielleicht wird es besser. Liebe Grüße, Kathrin
  • katha sagt:

    Vintage, Vinted, Flohmarkt - für mich seit Jahren dort die tollsten Funde. Ich kaufe eigentlich nur noch Basics und ausgewählte Einzelteile neu - Ausnahme Schuhe und Handtaschen.
    Eine meiner liebsten Bags habe ich allerdings auch vor Jahren von einer älteren Dame auf dem Flohmarkt gekauft: eine early 90er Prada Bag mit handgestickten Blumen - und knallila Leder. Ich konnte sogar noch auf 90 Euro runterhandeln. 😂😍🥳
    • Kathrin Bierling sagt:

      Mega, Katha! Das klingt gut. Nur wegen Vinted muss ich jetzt noch mal fragen... Was mich da immer nervt, dass alles nach Schnäppchen aussieht, aber am Ende handelt es sich um nicht geprüfte Sachen (vergleiche Vestiaire Collective, Re-See), die plus Gebühr und Versand doch nicht mehr so günstig sind. Aber dann schaue ich da auch noch mal... 🙂 Danke!
  • Reinhard Riesel sagt:

    Früher sagte man: Die Frau trägt die Kleider, der Mann die Kosten. Aber heute ist die Frau, denke ich, autag. Die Frau sollte ja auch den Status zeigen, den man sich erarbeitet hat. Es ist, finde ich super, wenn man "vergangenes" wieder aufleben lässt. Man muss nicht immer den neusten Modetrend mitmachen um Schick auszusehen. Und was ist schon "Mode". Ein Wort das im 17. Jahrhundert von Frankreich aus dem latainichen "Modus" entstammt. Also eine Zeitlich begrenzte Kleidungsart. Die in abgeänderter Form immer wieder einmal auftaucht. Aber ob neu oder alt, wenn man sich darin wohlfühlt, ist doch alles in Ordnung.
  • Caro sagt:

    „Second Hand eine Art Methadon" – der Gedanke ist ggf. tragisch-genial, denn er hat wohl auch viel Wahrheitsgehalt. Vielleicht tragisch, da die „Sucht“ sozusagen noch immer da ist, jedoch die „Schäden“ geringer. Ich glaube daran, dass sich durch Second Hand Mode auch etwas zum Guten in Richtung Nachhaltigkeit ändert, sowie dass dadurch auch mehr Bewusstsein vorherrschen kann, wenn man sich denn darauf einlässt.
    Solange Konsum mit Glücksgefühl verbunden ist – auch wenn dieses nur kurzweilig anhält und nicht intrinsisch einzieht – so denke ich, dass auch Second Hand Mode für viele Methadon sein wird, jedoch mit weniger Nebenwirkungen für alle.
    Ich persönlich habe Second Hand lange nicht im Kleiderschrank gehabt und nun ist meine erste Wahl oft zweite und ich blogge sogar ausführlich drüber, um es anderen näher zu bringen: http://www.carofairliebt.de
    Ich mache mir dabei aber immer bewusst bzw. frage ich mich, ob ich das ein oder andere Kleidungsstück wirklich brauche. Zudem kommt oft der Gedanke, dass für mich Kleidung auch eine Art Ausdruck ist und ich drücke mich gerne vielfältig aus, mal schlicht schwarz, mal elegant, mal lässig im 80er Vintage. Solange das Bewusstsein und die Reflektion dessen nicht verloren geht, würde ich sagen, ist es kein Methadon und man ist wirklich frei...auch in seinem eigenem Ausdruck.

    Liebe Grüße aus Köln

    Caro