Nichts ist so schick, wie nix Neues zu kaufen
Es gab bessere Zeiten, Modeblogger zu sein. Worüber schreibt man, wenn es uncool ist, sich neu einzukleiden? Ein neues Outfit wirkt in Zeiten kalkulierter Überproduktionen und Vermüllung des Planeten geradezu ignorant und vulgär.
Nichts ist so schick, wie nix Neues zu kaufen
Konsum-Autor Carl Tillessen schrieb vor ein paar Tagen auf profashionals.de: „Vor der Pandemie bedeutete „nachhaltiger Modekonsum“ für die Mehrheit, dass man nachhaltige Mode konsumiert. Den Gedanken, dass man auch weniger Mode konsumieren könnte, hatte damals hingegen nur eine Minderheit, nämlich ein Drittel der Leute. Durch die Pandemie haben sich diese Mehrheitsverhältnisse umgekehrt, so dass jetzt zwei Drittel aller Menschen die Umwelt und das Klima schützen wollen, indem sie dazu beitragen, dass weniger Kleidung gekauft wird.“
Das merken wir alle an uns selbst. Jede Kaufentscheidung wird öfter überdacht als früher und endet meist in: Ich fühle mich besser, wenn ich das jetzt nicht kaufe. Oft tut es der Pullover aus dem letzten oder vorletzten Jahr genau so gut. Dennoch möchte man zwischendurch etwas Neues für seine Garderobe, um sie etwas aufzufrischen, oder einfach nur das Belohnungssystem anwerfen.
Braucht man wirklich so wenig?
Viele, sogar die, die von neuen Trends leben, suchen sich jetzt in der Vintage-Mode ihr neues „gutes Gefühl“. Genau genommen sind es sogar gerade diejenigen, die in der Mode arbeiten. Wie es Virgil Abloh (Off-White, Louis Vuitton), der bis zu seinem frühen Tod im vergangenen Jahr, der erfolgreichste Designer unserer Zeit war, vorhersagte: „I think that like we’re gonna hit this like, really awesome state of expressing your knowledge and personal style with vintage – there are so many clothes that are cool that are in vintage shops and it’s just about wearing them. I think that fashion is gonna go away from buying a boxfresh something; it’ll be like, hey I’m gonna go into my archive.“ (>>>).
Und die, die (noch) kein großes Archiv besitzen, kaufen eben Vintage. Darüber sprach ich vor zwei Jahren mit Kerstin Weng, der heutigen deutschen Vogue-Chefin, in der Vintage-Folge meines Podcasts 'Das trägt man jetzt so' (>>>). Darin verrät sie, dass sie am liebsten bei Re-See, einem Vintage-Onlineshop aus Frankreich, nach besonderen Fundstücken schaut. Damit zeigt sie, wie Abloh es wohl auch meinte, ihr Wissen über Mode, über die Umstände in der Welt, und ihren persönlich Stil.
Vintage-Mode − ein aktuelles Beispiel
Jetzt ist Mantel- und Stiefelzeit, wenn man die Ersteller von Onlineshop-Newslettern befragt. Das heißt, modisch interessierte Menschen überlegen sich gerade, dahingehend eine Neuanschaffung zu tätigen. Da stellt sich die Frage: Chunky Boots, also Stiefel mit einer sehr dicken Gummisohle, um die alte Rock-Garnitur an den Puls der Zeit zu führen, oder alte Modelle im Archiv finden und seinen eigenen Stil kreieren. Klassiker wären Cowboyboots, Reiterstiefel oder Lederstrumpfstiefel, wie jene von Stuart Weitzman. Letztere gibt es seit 10 Jahren und man bekommt sie gerade erstaunlich günstig (100 statt 1.000 Euro) bei Vestiaire Collective und anderen Secondhand-Plattformen.
Doch auch fürs Secondhand-Schnäppchen hat Carl Tillessen eine nüchterne Erklärung: „Um den kalten Entzug von Fast Fashion zu schaffen, brauchen sie einen Ersatz (damit meint er wohl uns, Anm. d. Red.). Der Konsum von Second Hand ist für sie eine Art Methadon. Es ist die neue Form schnellen und billigen modischen Ausdrucks – mit einem wesentlich kleineren ökologischen Fußabdruck.“
Na immerhin: Wenigstens ist das Ausleben des Jäger-und-Sammler-Triebes (oder sollte ich es 'Sucht' nennen?) weniger umweltschädlich als früher.
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Photo Credit: Catwalkpictures
Kommentare
Ist es denn wirklich so, dass sich nachhaltiger gekleidet wird und es eine Rückbesinnung auf schon Vorhandenes gibt? Das wäre wünschenswert. Aber ich habe leider eher immer noch den Eindruck, dass alle ständig Neues kaufen. Und zwar immer alle denselben Kram. Alles ist fast fashion, auch die Mode der großen Häuser, die eben Umsatzgetrieben sind.
Ich versuche, wenig zu kaufen (oder nichts) aber es fällt mir schwer in Zeiten von Instagram. Auch ich will doch immer Neues für den Rausch beim Kauf. Und das, obwohl ich regelmäßig meinen Kleiderschrank ausmiste und immer wieder feststelle, dass ich ja doch immer nur die selben Teile trage. Und dann durch den Aufwand, den ganzen ollen Kram loszuwerden (Flohmarkt, Vinted usw.) dann kurzzeitig geheilt bin. Und obwohl ich schon auf den heiß begehrten It-Pieces sitzen geblieben bin weil das heiße Teil - obwohl als Klassiker verschrien - 5 Jahre später niemand mehr haben will. Aufheben, bis es in 15 oder 20 Jahren wiederkommt? Puh - soviel Platz muss man eben auch erstmal haben. „Archiv“ klingt für mich leider nach einem vollen Kleiderschrank voller ungenutztem Zeug.
Eine meiner liebsten Bags habe ich allerdings auch vor Jahren von einer älteren Dame auf dem Flohmarkt gekauft: eine early 90er Prada Bag mit handgestickten Blumen - und knallila Leder. Ich konnte sogar noch auf 90 Euro runterhandeln. 😂😍🥳
Solange Konsum mit Glücksgefühl verbunden ist – auch wenn dieses nur kurzweilig anhält und nicht intrinsisch einzieht – so denke ich, dass auch Second Hand Mode für viele Methadon sein wird, jedoch mit weniger Nebenwirkungen für alle.
Ich persönlich habe Second Hand lange nicht im Kleiderschrank gehabt und nun ist meine erste Wahl oft zweite und ich blogge sogar ausführlich drüber, um es anderen näher zu bringen: http://www.carofairliebt.de
Ich mache mir dabei aber immer bewusst bzw. frage ich mich, ob ich das ein oder andere Kleidungsstück wirklich brauche. Zudem kommt oft der Gedanke, dass für mich Kleidung auch eine Art Ausdruck ist und ich drücke mich gerne vielfältig aus, mal schlicht schwarz, mal elegant, mal lässig im 80er Vintage. Solange das Bewusstsein und die Reflektion dessen nicht verloren geht, würde ich sagen, ist es kein Methadon und man ist wirklich frei...auch in seinem eigenem Ausdruck.
Liebe Grüße aus Köln
Caro